von Mirko Allwinn, I:P:Bm
Manche Ereignisse kommen uns so vor, als seien sie noch nicht so lange her. 9/11 war bereits im Jahr 2001, doch manche von uns können sich noch an die Bilder der in die Tower fliegenden Flugzeuge erinnern. Das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016 ist uns ebenfalls noch in Erinnerung und möglicherweise aus zwei Gründen präsenter. Zum einen wegen der zeitlichen, aber eben auch aufgrund der räumlichen Nähe. Natürlich spielen noch eine Reihe weiterer Faktoren eine Rolle ob wir uns an Ereignisse erinnern oder nicht. Wie sehr waren wir von den Ereignissen emotional betroffen? Besteht ein persönlicher Bezug zu dem Ereignis? Waren wir persönlich betroffen? Wie groß war der Schaden und wie „untypisch“ war das Ereignis? Und selbstverständlich steuern die Medien unsere Aufmerksamkeit insofern sie die Ereignisse wieder und wieder in den Fokus rücken und darüber berichten.
Im Bereich der schweren zielgerichteten Gewalt gibt es noch ein weiteres Element, dass dazu beiträgt, dass die Taten in unserem kulturellen
Gedächtnis haften bleiben – die Täter selbst und ihre Handlungen.
Sie produzieren mitunter Materialien, die durch sie selbst in die Öffentlichkeit gestreut werden. Sei es durch irgendwelche Pamphlete mit kruden Theorien oder Videobotschaften mit obskuren Aussagen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Columbine als Blaupause für School Shootings
Vor 20 Jahren drangen zwei Schüler der Columbine High School (Colorado, USA) schwer bewaffnet in ihre Schule ein und erschossen 12 Schülerinnen und Schüler und einen Lehrer, bevor sie sich selbst suizidierten. Die beiden Täter (17 und 18 Jahre alt) planten ihre Tat akribisch und nahmen unzählige Videos auf und schrieben Tagebücher. Von der Tat kursieren noch immer Überwachungsvideos im Netz. Die Täter machten den Anfang und produzierten Materialien, um in Erinnerung zu blieben und zukünftige Täter zu animieren, es ihnen gleich zu tun. Bedauerlicherweise nahmen tatsächlich in den Jahren danach Täter in den USA und an anderen Orten der Welt Bezug auf die Tat im Jahr 1999.
Reportagen und Filme nahmen sich der Thematik an, Musikstücke handeln von der Tat, in Blogs wurde über die Taten, die Täter und ihre Motive spekuliert und aus den Fan-Communities sind weitere Produkte wie Computerspiele, Zeichnungen, Animationen oder auch Merchandise-Artikel entstanden.
Zwar gab es bereits vor 1999 School Shootings, wie wir aus den Archiven und dank findiger Historiker wissen, jedoch erhielten diese Taten glücklicherweise weder die mediale Aufmerksamkeit noch gab es bereits die technischen Mittel, um sich dauerhaft zu verewigen. Die Tat von Columbine war daher so „einzigartig“, dass ihr so große Aufmerksamkeit teil wurde. Je grausamer und desto mehr Todesopfer, umso eher prägen diese Taten die momentane Medienlandschaft.
Das alles trug dazu bei, dass die Täter in bestimmten Kreisen als „Kultfiguren“ idealisiert wurden und immer noch werden und solche Taten als kulturelles Skript permanent abrufbar ist und erinnert wird. Die Tat gilt als Blaupause im Bereich der sogenannten School Shootings für die USA, aber auch über den Atlantik hinaus – auch für Deutschland. Allein in den USA bezogen sich mindestens 80 Personen in den 20 Jahren danach auf Columbine. Die sogenannten Nachahmer versuchen sich in die Riege einzugliedern und des Öfteren ihre Idole zu übertrumpfen oder sich anderweitig von diesen abzugrenzen, indem sie mitunter ungewöhnliche Methoden oder andere Tatmerkmale wählen. Sie wollen ein „Zeichen“ in ihrem Leben setzen, welches Sie anderweitig durch legale und sozial angemessene Ausdrucksformen niemals erreichen würden, weil ihnen schlichtweg hierzu die Courage und der Biss fehlt.
Nachahmungstaten
Kurz vor oder nach den Jahrestagen schwerer Gewaltdelikte ist die Gefahr vor Nachahmungstaten besonders groß. Erst vor wenigen Tagen konnte durch das Eingreifen der Polizei in den USA möglicherweise schlimmeres verhindert werden. Das FBI hatte nach einer bewaffneten 18-Jährigen gefahndet. Die Frau sei laut Aussage des FBIs vor dem Jahrestag des Columbine Massakers „von Miami nach Colorado gereist und habe sich nach der Ankunft eine Schusswaffe und Munition gekauft.“. Sie sei in die Tat von Columbine vernarrt gewesen. Sie postete unter anderem „Das Leben wird überschätzt", darunter fand sich eine Zeichnung einer Pistole, die mit dem Wort "bereit?" gerahmt wurde. Die Gesuchte hatte sich schließlich selbst in einem Apartment umgebracht. Weitere Personen wurden nicht verletzt.
Massenmedien und die sozialen Medien – was anders ist
Vor 20 Jahren waren die Mittel und Wege zur Verbreitung von Botschaften im Vergleich zu heute noch in den Kinderschuhen. Durch die sozialen Medien verbreiten sich die Taten heute ungleich schneller. Auf der anderen Seite zeigt sich von Seiten aller Akteure – auch der Medien – ein deutlich umsichtigeres Verhalten. Die Täterkonterfei werden nicht mehr in dem Maße verbreitet und ungetrübt veröffentlicht, die Täter werden nicht mehr in ihren vermeintlich rühmlichen Posen samt Waffe und Outfit dargestellt (so wie sich die Täter gern selbst sehen würden) und die Taten werden nicht in Dauerschleife wieder und wieder in den Nachrichten abgespult.
Wie das Beispiel der 18-Jährigen aus den USA zeigt (s.o.), veröffentlichen mögliche Nachahmer jedoch im Vorfeld ihrer Taten Kommentare und Texte, die darauf hindeuten können, ob sich jemand auf dem Weg zu einer schweren zielgerichteten Gewalttat befindet und bieten so Möglichkeiten zur Detektion.
Selektiver Aufmerksamkeitsbias bei schwersten Gewalttaten
Solche Taten erweckten den Eindruck, dass sich diese Taten überall und jederzeit ereignen können. In Deutschland sind seit Ende der 90er Jahren ein knappes Duzend School Shootings durch ehemalige und aktuelle Schüler durchgeführt worden. Dagegen werden knapp 150 (ehemalige) Intimpartnerinnen jedes Jahr allein in Deutschland durch ihre (Ex-)Partner getötet. Durch die anfangs kurz dargestellten Faktoren, wie und weshalb wir manche Ereignisse besser erinnern als andere, aber auch die selektive Aufmerksamkeit der Medien – gerade auf „außergewöhnliche“ Ereignisse – überschätzen wir manchmal die statistische Wahrscheinlichkeit dieser Ereignisse.
Was ist seit Columbine im Bereich der Prävention passiert?
Seit Columbine haben sich tausende Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Ländern mit der Erforschung des Phänomens beschäftigt. Allein unter dem Begriff „School Shooting“ werden in den wissenschaftlichen Datenbanken mittlerweile 14.700 Fachpublikationen gelistet. Wir wissen heute deutlich mehr darüber, weshalb es zu solchen Taten kommt und woran wir im Vorfeld erkennen können, ob sich gegebenenfalls ein Schüler auf dem Weg zu einer schweren Gewalttat befindet und können somit geschickter und umsichtiger intervenieren.
Darüber hinaus wurden Schulangehörige dahingehend ausgebildet, woran sich eine Zuspitzung hin zu einer schweren zielgerichteten Gewalttat bei Jugendlichen erkennen lässt. Sogenannte „Krisen- und Interventionsteams“ sind in zahlreichen Schulen in Deutschland etabliert worden. Allein I:P:Bm hat innerhalb der letzten 17 Jahre durch Inhouse-Schulungen viele Schulangehörige und Krisenteams ausgebildet.
Initiativen (von Hinterbliebenen) haben sich gegründet und arbeiten tagtäglich daran, ihre Botschaften zu verbreiten und für maladaptive Entwicklungswege bei Kindern und Jugendlichen zu sensibilisieren und die Aufmerksamkeit sowie das Engagement auf die Prävention zu richten.
Die Medien sind, wie bereits angedeutet, wesentlich umsichtiger bei der Veröffentlichung von Informationen und haben sich einen Kodex auferlegt, an den sich viele Medienvertreter halten.
Die Sicherheitsbehörden haben, soweit sich das beurteilen lässt, dank der Aufmerksamkeit aus der Bevölkerung, einige Taten verhindern können.
Auch gehe ich davon aus, dass im Rahmen vieler Therapiestunden durch Psychologen und Psychiater Kindern und Jugendlichen geholfen werden konnte, sodass Fremd- und Selbstgefährdungen abgenommen haben und die Lebensqualität vieler zugenommen hat.
Nichts desto trotz sollten wir uns nicht auf den Erfolgen aus der Vergangenheit ausruhen, sondern unbeirrt daran arbeiten, durch präventive Maßnahmen auch zukünftig schwere Gewaltdelikte so gut es geht zu verhindern und in ihrer Häufigkeit zu reduzieren. Es bedarf offener ehrlicher Debatten, die neben der psychischen Gesundheit auch die präventive Polizei- und Sozialarbeit thematisieren sowie über die Rolle traditioneller und sozialer Medien diskutieren.
Es ist mittlerweile wissenschaftlich fundiert was viele Menschen bereits ahnten: Allein die Verfügbarkeit von Waffen und laxe Waffengesetze erhöhen die Anzahl an tödlichen Angriffen und Mehrfachtötungen. Dieser Hebel wurde bislang viel zu zaghaft in Bewegung gesetzt (insbesondere in den USA). Dies ist mitunter ein Grund, weshalb die Anzahl an School Shootings in den USA so viel größer ist, als in allen anderen Ländern der Erde. Neuseeland hat es nach Christchurch vorgemacht, indem die Waffengesetze unmittelbar nach dem Anschlag verschärft wurden. Jetzt sind wir gefragt unseren Anteil für eine sicherere Welt beizutragen.
Wer sich zusätzlich mit der Thematik befassen möchte, dem empfehlen wir folgendes Interview mit Dr. Reid Meloy: